...zum anstehenden 60er ins eigene Tagebuch
Irgendwer hat einmal gesagt, dass bei denen, die in der Jugend nicht Sozialisten sind – und beim Altern nicht konservativ werden, irgendetwas nicht stimme. Das mag schon für die meisten stimmen. Die meinen sie würden mit dem Alter wohl gescheiter – so hat man jedenfalls geredet, als ich noch ein Kind war.
Leider bin ich nicht gescheiter, sondern dümmer geworden. Das hat aber nicht nur Böses mit sich gebracht: Mein früheres Leben, das ich im Großen und Ganzen ganz anständig geführt habe, war geprägt von einer Vernunftsmoral, die mir vieles verbat, nicht weil es mir widerstrebte, sondern weil die Konsequenzen für mich und/oder meine Mitmenschen unüberschaubar oder absehbar negativ erschienen. Das bedeutete aber auch, dass mir das Leid anderer zwar widerstrebte, mir aber nichts zu Leide tat.
Ganz konkret: Als Lehrer begegnet man sehr vielen jungen Menschen in einem professionellen Rahmen, wo man öfter registriert, dass es dem einen oder anderen gar nicht gut geht, und oft ist es mit ein wenig Ermunterung nicht getan, da die Probleme außerhalb des eigenen Unterrichts oder sogar außerhalb der Schule liegen. Dann habe ich mir gesagt, da kannst du nichts machen und mich nicht mehr darum gekümmert.
Als dann vor mehreren Jahren meine geistige Kapazität durch meinen „Dachschaden“ recht in Mitleidenschaft gezogen wurde, war es nicht mehr so einfach, diese Probleme anderer abzuschütteln. Es kam nie dazu, dass ich mit diesen Problemen unterging, aber ich habe doch versucht, in einigen Fällen mehr oder weniger privat oder auch offensiv gegenüber anderen einzugreifen. Das war manchmal erfolgreich, hat oft nichts gebracht, aber - soweit mir bewusst - auch nie geschadet. Dabei ist dieses „Gutmenschverhalten“ nicht von Nächstenliebe getragen, sondern von dem Schmerz, der angesichts des Leidens anderer bei mir ausgelöst wird.
Banal: Früher konnte ich mir ohne weiteres auch die brutalsten Filme ansehen, und der Gedanke, dass das eben nur Dramatik und nicht Realität war, reichte völlig aus, um mir die dargestellten Martyrien gleichgültig sein zu lassen – oder sie als Spannungselemente zu „genießen“.
Heute wechsle ich den Kanal oder schalte ab, weil ich so etwas einfach nicht mehr aushalte, und der Gedanke an das Artifizielle kann die Gefühle nicht aufhalten, vielleicht deshalb, weil es mir eben schwer fällt, jedweglichen Gedanken festzuhalten und gleichzeitig einer Handlung zu folgen.
Für mein Verhältnis zu Umwelt oder Gesellschaft bedeutet das, dass ich jetzt viel häufiger gefühlsmäßig engagiert werde, wenn ich Sachen sehe, höre oder Dinge erlebe, die ungerecht, unbedacht oder sogar mit Absicht Leid verursachen.
Auch im Verhältnis zum Verhalten anderer, fällt es mir nun viel schwerer, nicht gefühlsmäßig zu urteilen und zu reagieren, wenn mir jemand oder etwas gegen den Strich geht.
Das mag einerseits dazu führen, dass ich mich absolut dazu berufen fühle, meinem Unmut mehr oder weniger öffentlich Luft zu machen – aber auch dazu, dass ich mich lieber bei mir vernünftig und gut erscheinenden Aktivitäten engagiere, auch wenn sie weder großartig noch besonders erfolgversprechend erscheinen, weil mir das Erlebnis, es zumindest versuch zu haben , wichtig geworden ist, wo ich früher mit dem Ausblick auf keinen oder sehr mageren Erfolg mir selber abgewinkt habe.
Der Schluss daraus: mag sein, dass ich in vielen Fällen nicht mehr zu gebrauchen bin – aber sei's drum – ich glaube (und brauche nun nicht zu wissen), dass ich trotz einer gewissen Trägheit und Verwirrung immer noch was ausrichten kann, was anderen und mir selber Freude machen kann und wird.
Wenn es mir um Politik geht, kann ich daher mit dem derzeit hoch gepriesenen extremen, egoistischen Liberalismus nichts anfangen, und mit dem irrationalen faschistoiden Nationalismus schon gar nicht. Und bis zur eventuellen religiösen Umnachtung müssen noch einige Gehirnzellen mehr dran glauben.
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